Innovation
Wer ist eigentlich das Volk? Aufbruch in eine demokratische Migrationsgesellschaft
Donnerstag, 23. Mai 2024
Von Rohit Jain
Erschienen im Rahmen der INES Publikation «Argumentarium für eine Neues Bürgerrecht», 20. April 2024.
Sie kennen vielleicht dieses Bild: Am Wahl- oder Abstimmungssonntag sitzen die Parteipräsident:innen in der «Elefantenrunde» des Schweizer Fernsehens zusammen und deuten den Volkswillen: «Das Volk» hat das gesagt, es denkt und tickt so und so. Ich frage mich dann jeweils: Wer ist eigentlich dieses «Volk», über das alle sprechen? Und warum macht sich niemand ernsthaft Sorgen um eine Demokratie, in der über ein Viertel der Bevölkerung, also über zwei Millionen Menschen, wegen ihrer Herkunft oder – zumindest indirekt – wegen ihrer Hautfarbe auf nationaler Ebene keine politische Rechte haben?
Ich kann mich nicht erinnern, dass eine der grossen Parteien – namentlich die SP, die Grünen, die Mitte oder die FDP – dieses Demokratiedefizit jemals zu einem ihrer Hauptthemen gemacht hat. Ist es realpolitisch zu heikel? Wissen sie nichts davon? Ist es ihnen egal – oder finden sie es sogar gut so?
Dies ist wohl die wichtigste demokratiepolitische Fragestellung seit der Einführung des nationalen Frauenstimm- und Wahlrechts im Jahr 1971. Im Folgenden möchte ich drei – mehr oder weniger bekannte – Erklärungen diskutieren, warum in der Schweiz trotz ihres demokratischen Selbstbildes bis jetzt keine ernsthafte Bürgerrechtsreform lanciert wurde. Die erste These lautet: Es ist nicht möglich. Die zweite: Es ist nicht gewollt. Und die dritte besagt: Es ist nicht vorstellbar.
1. EINE BÜRGERRECHTSREFORM IST REALPOLITISCH NICHT MÖGLICH....
Seit den späten 1990er Jahren war von linker Seite und aus der Mitte zu hören, dass eine Bürgerrechtsreform politisch keine Chance hätte. Wenn eine Initiative über eine Bürgerrechtsreform bachab ginge – so das Argument – dann wäre das Thema für die nächsten zwanzig Jahre vom Tisch. Stattdessen wären realistische, kleine Schritte angesagt. Ja, der Aufstieg der rechtspopulistischen SVP in dieser Zeit hat die Machtverhältnisse im Parlament und die Deutungshoheit in der Migrationspolitik verschoben. Aber die realpolitische Strategie von linker und liberaler Seite führte dazu, dass die eigenen Forderungen immer schwächer wurden.
Ein Beispiel: 2004 wurde eine gemässigte Initiative für eine erleichterte Einbürgerung der zweiten Generation mit 56,8% abgelehnt. Im gleichen Zug wurde eine Einbürgerung der dritten Generation bei Geburt mit 51,6% abgelehnt. Die Konsequenz war, dass einige Jahre später eine Initiative lanciert wurde, die nun die erleichterte Einbürgerung der dritten Generation forderte. Diese wurde schliesslich 2017 angenommen. Obwohl die Hartnäckigkeit bewundernswert ist, war dies kaum ein Sieg. Das Rückzugsgefecht im Namen der Realpolitik verfestigte die ausländerfeindlichen Machtverhältnisse. Während in den 1990er und den frühen 2000er Jahren substanzielle Bürgerrechtsreformen zumindest diskutiert wurden, scheint dies seitdem nicht mehr möglich.
2. EINBÜRGERUNGEN SIND IM KERN DES STAATSVERSTÄNDNISSES NICHT GEWOLLT...
Die Bürgerrechtsreform hatte keine Priorität und war daher – unter dem Strich – auch nicht gewollt. Dieser Unwille verweist auf einen tieferen Grund, der im Aufbau der nationalen Ausländer- und Bürgerrechtspolitik ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts zu finden ist. Schon damals war die Schweiz ein international vernetztes Einwanderungsland und einige Stadtteile wiesen einen Ausländeranteil von über dreissig Prozent auf. Die Industrialisierung hatte an Fahrt aufgenommen und die Wirtschaft profitierte von ausländischen Arbeiter*innen und kolonialen Unternehmungen. Dabei war das Bürgerrecht auf nationaler Ebene relativ liberal geregelt. Es galt mehr oder weniger Freizügigkeit und im Kampf gegen die „Überfremdung“ wurde eine Einbürgerung bei Geburt (ius soli) ernsthaft diskutiert. Dies würde eine schnelle Identifikation der zweiten Generation mit der Schweiz fördern.
Die offene Stimmung ändert sich rund um den Ersten Weltkrieg und ¬¬es entstand der Kern des bis heute gültigen nationalen migrationspolitischen Apparates: 1917 wurde per Notverordnung die Eidgenössische Fremdenpolizei gegründet. 1934 trat das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer ANAG in Kraft, das bis 2007 in Kraft war. Der Überfremdungsdiskurs hatte sich in der Zwischenzeit unter eugenischen und antisemitischen Vorzeichen verändert und hatte eine ethnische, ja rassistische Färbung erhalten. Zunehmend wurde der Kern einer homogenen Nation beschrieben, der sich um Abstammung sowie Tradition drehte und oft mit diffusen Merkmalen wie der «nationalen Eigenart» oder «Sitten und Gebräuchen» einher ging. Ausländerinnen wurden in der neu eingeführten Bewilligungs- und Einbürgerungspraxis gemäss «Qualität» oder «Anpassungsfähigkeit» beurteilt; Kriterien, die sich implizit oder explizit oft auf rassenanthropologische Deutungsmuster bezogen. Die Architekten dieser Fremdenabwehr wie Max Ruth, Ernst Delaquis oder Heinrich Rothmund waren – wie später die Rechtspopulisten James Schwarzenbach oder Christoph Blocher – überzeugt, dass die Schweiz aus wirtschaftlichen Gründen auf Migration angewiesen sei und Einbürgerungen unvermeidbar seien. Jedoch sollten eingebürgerte Ausländerinnen nie zum eigentlich Kern gehören, sondern lediglich eine Korrektur des Staatsvolkes darstellen. Die Einbürgerung von Ausländerinnen ist demnach nicht das gewünschte Ziel der Politik, sondern lediglich eine pragmatische Ausnahme. Ein solcher völkischer Kern wurde zwar nie explizit mit ethnischen oder rassischen Begriffen in den Gesetzestexten verbrieft, nichtsdestotrotz prägt diese Logik die Migrations- und Bürgerrechtspolitik sowie das Selbstverständnis der Nation bis heute. Und ich wage zu behaupten, dass alle Ausländerinnen dies nur zu oft spüren – spätestens im Einbürgerungsverfahren.
3. MUT ZUR VISION: EINE DEMOKRATISCHE MIGRATIONSGESELLSCHAFT IST VORSTELLBAR
Diese Erkenntnis mag bitter erscheinen und Empörung hervorrufen. Sie öffnet aber auch die Augen und ermöglicht neue Wege politischen Handelns.
Seit der Schwarzenbach-Initiative von 1970 wird die strukturelle Ablehnung gegenüber Ausländer*innen auf den Rechtspopulismus projiziert. Mit diesem falschen politischen Narrativ vergewissern sich die Linke und die Mitte nur zu oft einer staatstragenden, weltoffenen Überlegenheit – und ihrer demokratischen Unschuld. Die Rechte drückt dabei nur aus, was im staatlichen Fundament der Migrations- und Bürgerrechtspolitik schon angelegt ist. Um etwas zu ändern, wäre es nötig, Verantwortung dafür zu übernehmen und den staatsrassistischen Kern in Gesetzgebung, Politik und Verwaltungspraxis umzubauen.
Die Demokratie-Initiative, die 2022 lanciert wurde oder die Motion Rechsteiner aus dem Jahr 2021, brechen aus der Verdrängungsspirale aus und beweisen damit Mut zur Imagination. Statt in den kurzfristigen Wirren der Realpolitik zu verzweifeln oder angesichts des Rechtspopulismus zu jammern, zeigt sich darin die politische Vision einer demokratischen Migrationsgesellschaft Schweiz sowie der Wille, zum Kern des Problems vorzustossen. Der Weg dorthin wird lang sein und wohl über die Annahme oder Ablehnung einzelner Vorstösse hinausgehen.
Dabei stehen Ausländerinnen auf diesem Weg vor dem gleichen Problem wie die Frauenbewegung. Ihre politische Inklusion kann nur von denjenigen entschieden werden, die schon im exklusiven Club der Demokratie sitzen. Die Geschichte der Frauenbewegung zeigt, dass auch Migrantinnen nicht erwarten können, dass das politische System ihnen diese Rechte vor die Füsse legt. Sie haben keine natürliche Interessenvertretung oder Lobby in der formellen Demokratie. Diese politischen Rechte müssen langfristig und hartnäckig erstritten werden.
Eine solidarische, postmigrantische Demokratiebewegung – innerhalb und ausserhalb des Parlaments und hoffentlich mit Unterstützung der Arbeiterinnnen. und Frauenbewegung und einer anständigen Schweizer Mehrheit – muss daher das Heft in die Hand nehmen. Sie kann sich dabei in ein längeres Civil Rights Movement à la Suisse einreihen: Die Demonstrationen der Gastarbeiterinnen gegen die Schwarzenbach-Initiative und das Saisonnierstatut, die Solidaritätsbewegung rund um die Mitenand-Initiative und Asylpolitik, die Umsetzung der Integrationspolitiken der 1990er Jahre, die gewerkschaftlichen Kämpfe für Sozialrechte von Ausländerinnen, die antirassistischen Kämpfe und die staatliche Etablierung der Rassismus-Bekämpfung. In diesen Bewegungen zeigen sich inklusive Dynamiken, die zu einer formalen Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation von Ausländerinnen geführt haben, wobei die Diskriminierung und Segmentierung in Bereichen wie Arbeit, Bildung und Kultur weiter anhält.
Der offene und visionäre Kampf um ein inklusives Bürgerrecht ist ein neues Kapitel in dieser Bewegung hin zu einer demokratischen und sozial gerechten Migrationsgesellschaft Schweiz. In der Frage, ob jede*r Einzelne, NGOs oder Parteien sich aktiv hinter dieses Anliegen zu stellen vermögen, wird sich entscheiden, ob eine demokratische Migrationsgesellschaft gewollt ist oder nicht.
Literatur
Regula Argast: Staatsbürgerschaft und Nation. Ausschließung und Integration in der Schweiz 1848–1933, Göttingen 2007.
Kijan Espahangizi: [«Ein Civil Rights Movement in der Schweiz? Das vergessene Erbe der Mitenand-Bewegung (1974–1990)», in: INES Blog, 18. Oktober 2018 und 8. Februar 2023)
Rohit Jain: «Von der ‘Zigeunerkartei’ zu den ‘Schweizermachern’ bis Racial Profiling. Ein Essay über einen helvetischen Staatsrassismus», in: Mohamed Wa Baile et al. (Hg.): Racial Profiling. Struktureller Rassismus und antirassistischer Widerstand, Bielefeld 2019, S. 43–65.
Patrick Kury: Über Fremde reden: Überfremdungsdiskurs und Ausgrenzung in der Schweiz, 1900–1945, Zürich 2003.
ROHIT JAIN ist promovierter Sozialanthropologe an der Universität Bern. Von 2016 bis 2019 war er Co-Geschäftsführer von INES. Er ist Mitbegründer und Ko-Leiter des erinnerungspolitischen Langzeitprojektes «Schwarzenbach Komplex».
