Innovation
Zu radikal? Die Demokratie ernst nehmen!
Donnerstag, 27. Juni 2024
Von Simone Prodolliet
Die Forderung nach einem Recht auf Einbürgerung sei zu radikal, geben unterschiedliche Kreise zu bedenken. Da sind zum einen jene, die befürchten, ein solches Ansinnen verschrecke das «Volk» und führe zu einer niederschmetternden und haushohen Ablehnung an der Urne. Womit man gar nichts erreicht hätte; im Gegenteil laufe man Gefahr, bei den Bemühungen um Erleichterungen bei der Einbürgerung hinter das bisher Erreichte zurückgeworfen zu werden.
Die föderalistische Struktur der Schweiz und die Autonomie der Gemeinden liessen ja jetzt schon zu, dass fortschrittlich orientierte Kantone oder Gemeinden bzw. Städte ihren Handlungsspielraum nutzen könnten, um «grosszügiger» einzubürgern. Ein etappenweises Vorgehen beinhalte weitaus grössere Chancen, indem in kleineren Schritten vorgegangen werden könne, der in (allerdings nicht definierter) Zukunft schliesslich zum (auch nicht klar definierten) gewünschten Ziel führe. Ausserdem sei daran zu erinnern, dass es immer wieder Bestrebungen gebe, das Bürgerrechtsgesetz restriktiver auszugestalten. Die gegenwärtigen verbesserten Bedingungen, die im Verlauf der letzten Jahrzehnte erreicht wurden, seien zu verteidigen, und nicht das Risiko einzugehen, sie zu verlieren.
Andere wiederum lehnen ein Recht auf Einbürgerung als zu radikal ab, da dieses dem verbrieften Grundsatz, wie das Schweizer Bürgerrecht weitergegeben wird, widerspreche. Schweizerin, Schweizer werde man in erster Linie durch Vererbung nach dem Prinzip des ius sanguinis ursprünglich durch einen Schweizer Vater (bzw. bei Kindern von unverheirateten Paaren durch eine Schweizer Mutter), seit der Revision des Kindesrechts von 1976 dann auch durch eine mit einem Ausländer verheiratete Schweizer Mutter. Die Weitergabe des Bürgerrechts über Abstammung gehöre sozusagen zur DNA schweizerischen Selbstverständnisses. Das Festhalten an diesem Prinzip lasse zudem auch Auslandschweizerinnen und -schweizer als Söhne und Töchter der schweizerischen Nation begreifen, selbst wenn sie in dritter oder vierter Generation im Ausland leben und kaum noch Beziehungen zum Herkunftsland pflegen.
Dritte schliesslich argumentieren, dass eine Einbürgerung nicht einfach so – ohne vorhergehende «Prüfung» – erteilt werden dürfe. Die Eignung von Einbürgerungswilligen müsse durch «Integration» bewiesen werden. Ein Recht auf Einbürgerung sei deshalb als zu radikal abzulehnen, da dies Ausländerinnen und Ausländer unbesehen zu Schweizer Staatsangehörigen mache – Personen, die unter Umständen die Schweizer Werte nicht verinnerlicht hätten.
«Naturalisieren» – «assimilieren» – «zwangseinbürgern»
Was als «radikal» eingestuft wird, hat sich im Verlauf der Zeit immer wieder gewandelt. Aus heutiger Sicht geradezu utopisch wirken mag das Postulat von 1898, als der St. Galler Nationalrat Theodor Curti vorschlug, die zunehmende Zahl der Ausländer zu senken, indem in der Schweiz geborene Kinder von Ausländern zu «naturalisieren» seien – im Sinne einer «Assimilation». Assimilation dazumal verstanden als staatsbürgerliche Integration der in der Schweiz lebenden Ausländer mit Übernahme von Pflichten und der Wahrnehmung politischer Mitspracherechte. Diverse andere Vorstösse zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Städten Basel, Genf und Zürich, Ausländer nach einer gewissen Zeit des Aufenthalts das Bürgerrecht zu verleihen, zielten in dieselbe Richtung.
Spätere Forderungen rund um den Basler Nationalrat Emil Göttisheim zwischen 1900 und 1910 sprachen sich dafür aus, durch Einbürgerung die «Assimilation» Zugewanderter im Sinne deren Eingliederung in die Gesellschaft vorantreiben zu können. Eine forcierte Einbürgerung – man sprach auch von «Zwangseinbürgerung» – sollte in der Schweiz seit zwei Jahren anwesende Ausländer zu Schweizer Staatsbürgern und zu einem Teil der schweizerischen Bevölkerung machen.
Der Ausbruch des 1. Weltkriegs setzte entsprechenden Forderungen allerdings ein jähes Ende und änderte den Diskurs um den Zugang zum Bürgerrecht grundlegend. In der Zeit zwischen 1919 und 1952 wurde das Bürgerrechtsgesetz zunehmend restriktiver ausgestaltet, insbesondere mittels schrittweiser Erhöhung der Wohnsitzfristerfordernisse von zunächst auf sechs, später auf zwölf Jahre. Ausserdem sollte nur noch Personen das Bürgerrecht erteilt werden, wenn die Gesuchstellenden belegen könnten, sich in «entschiedenem Masse» in die schweizerischen Verhältnisse eingelebt und ihre Eignung als «zuverlässige Schweizerbürger» unter Beweis gestellt zu haben.
Aufwind durch den Integrationsdiskurs
In den Jahrzehnten seit den 1980er und 1990er Jahren wurde im Zusammenhang mit Diskussionen rund um die Integration von Ausländerinnen und Ausländern das Anliegen von Erleichterungen bei der Einbürgerung, insbesondere von jungen Menschen erneut aufgebracht. Die Vorlagen, die 1983, 1994 und 2004 der Stimmbevölkerung unterbreitet wurden, lesen sich im Vergleich zu den Forderungen um die Jahrhundertwende als eher sich vorsichtig vortastende Vorschläge und schreiben sich in die Strategie der kleinen Schritte ein. 1983 sollten Erleichterungen zur Einbürgerung gewisser Kategorien von Kindern schweizerischer Mütter eingeführt werden, 1994 ging es um die Erleichterung der in der zweiten Generation geborenen Kinder von Zugewanderten, 2004 um die automatische Einbürgerung von in der Schweiz geborenen Enkelinnen und Enkeln ausländischer Staatsangehöriger bei der Geburt. Alle Vorlagen wurden durch die Stimmbevölkerung bzw. durch die Stände abgelehnt. Erst 2017 erreichte die Vorlage zur erleichterten Einbürgerung von Kindern der dritten Ausländergeneration eine Zustimmung – auch wenn sich die Voraussetzungen, die dabei erfüllt sein müssen, nach wie vor einschränkend auswirken und de facto lediglich einer kleinen Zahl von Angehörigen der dritten Generation zum Schweizerpass verhelfen.
Radikal neu denken
Die Verknüpfung der Gewährung von Bürgerrechten mit der Vorstellung der Integration von Zugewanderten lässt sich in den Diskussionen seit den Forderungen der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert feststellen. Was unter Integration bzw. «Assimilation» verstanden wurde, änderte sich im Verlauf der Debatten. Während die Vorschläge aus der Generation Curti & Co. die Erteilung des Bürgerrechts als Mittel zur Integration verstanden, schreiben sich die Vorstösse seit den 1980er Jahren in ein umgekehrtes Argument ein: Ausländerinnen und Ausländer, die sich integriert haben, sollen mit dem Schweizerpass belohnt werden – im Sinne der «Krönung» des Integrationsprozesses. Letzterer Ansatz birgt – bei allem Verständnis dafür, dass die Schweizer Demokratie von Bürgerinnen und Bürger geprägt sein soll, die sich mit ihren Werten identifizieren – die Gefahr, dass das aktuelle System der Bürgerrechtserteilung mit ungleichen Ellen misst. Denn nicht in allen Kantonen und Gemeinden werden die Erfordernisse zum Kriterium der Integration gleich interpretiert und gemessen.
Eine starke Demokratie und ein starkes Selbstverständnis der Schweiz bieten die besten Voraussetzungen jedoch nicht nur zur Integration von Zugewanderten. Sie ermöglichen es auch, sich die Gesellschaft neu vorzustellen: als eine Schweiz, die die hier lebenden Menschen als ihre Bürgerinnen und Bürger, als Citoyennes und Citoyens, versteht. Die heute radikal anmutenden Anliegen, die vor über hundert Jahren vorgetragen wurden, sollten erneut zur Richtschnur für die Erteilung des Bürgerrechts gemacht werden. Es geht um die Menschen, die seit Jahren, ja Jahrzehnten in der Schweiz leben oder gar hier geboren wurden, Steuern bezahlen, die Wirtschaft und die Sozialwerke am Leben erhalten, sich mit den hiesigen Verhältnissen auskennen und sich hier zugehörig fühlen. Sie mit Bürgerrechten auszustatten, wäre deshalb nicht mal als besonders radikal einzustufen. Es wäre ein logischer Schritt, die Demokratie ernst zu nehmen. Denn der demos muss aus den Menschen bestehen, die hier leben. Eine starke Schweiz braucht nicht nur jene, die per Zufall das Schweizer Bürgerrecht in die Wiege gelegt erhalten haben, sondern auch jene, die später dazugekommen sind und ihren Beitrag zur hiesigen Gesellschaft leisten. Und nur auf vollwertige Mitglieder kann eine starke Demokratie letztlich zählen.
_Weiterführende Literatur
Regula Argast: Staatsbürgerschaft und Nation. Ausschliessung und Integration in der Schweiz 1848-1933, Göttingen 2007.
Eidgenössische Migrationskommission EKM: Das Schweizer Bürgerrecht. Historische Übersicht 1848-2006, Bern 2006. (www.ekm.admin.ch)
Pascale Steiner und Hans-Rudolf Wicker (Hg.): Paradoxien im Bürgerrecht. Sozialwissenschaftliche Studien zur Einbürgerungspraxis in Schweizer Gemeinden, Zürich 2004.
Wanner, Philippe und Rosita Fibbi: Zugang zur erleichterten Einbürgerung von Personen der dritten Generation. Bilanz nach drei Umsetzungsjahren (2018–2020), Bern 2022.
SIMONE PRODOLLIET ist Sozialanthropologin und ehemals Geschäftsführerin der Eidgenössischen Migrationskommission. Seit ihrer Pensionierung ist sie für diverse Mandate in den Themenbereichen Migration und Menschenrechte tätig._
