Innovation
Integration und Einbürgerung – Ein historischer Blick auf ein ambivalentes Verhältnis
Montag, 8. Juli 2024
Von Kijan Espahangizi
Das Thema Integration polarisiert. Es gibt verschiedene Vorstellungen davon, was Integration bedeutet. Das prägt auch die Debatte um Einbürgerung in der Schweiz. Die einen finden, das Bürgerrecht stelle den krönenden Abschluss eines langen Integrations- und Anpassungsprozesses dar, den eingewanderte Menschen durchlaufen müssen, bevor sie als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft anerkannt werden können. Die anderen verstehen Integration weniger als individuelle Anpassung, denn als Teilhabe an Gesellschaft. Diese zu ermöglichen, läge auch in der Verantwortung der Aufnahmegesellschaft, etwa durch Zugang zu gleichen Rechten. Aus dieser Sicht stellt die Einbürgerung eine wichtige Voraussetzung dar, um Integration leisten zu können. Wieder andere, gerade in der zweiten und dritten Generation, empfinden die ganze Integrationsdebatte als Zumutung, ja zuweilen sogar als rassistisch – als sei man nicht schon längst in der Schweiz heimisch, selbst wenn man noch keinen roten Pass hat. Alle sprechen von Integration, meinen aber unterschiedliche Dinge.
Dies erschwert die öffentliche Debatte um eine Reform des Bürgerrechts. Um die unterschiedlichen Perspektiven auf das Verhältnis von Integration und Einbürgerung besser verstehen und abwägen zu können, ist es wichtig, deren Geschichte zu kennen.
Einwanderung ist kein neues Phänomen in der Schweizer Geschichte. Der Begriff Integration kam jedoch erst vor sechzig Jahren auf, im Kontext der «Gastarbeit». Im Zuge des Wirtschaftsbooms der Nachkriegszeit war die Schweiz ebenso wie andere westeuropäische Industriestaaten auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen. Die Idee war, dass Menschen aus strukturschwachen Regionen Europas für eine Zeit in die Schweiz kamen, arbeiteten und dann wieder in ihre Herkunftsregionen zurückgingen. Die Erhöhung der Einbürgerungsfrist auf zwölf Jahre damals unterstrich, dass für die «Gastarbeiter» keine Einwanderungsperspektive vorgesehen war.
In den drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Hundertausende Menschen als Arbeitskräfte in die Schweiz. Mitte der 1960er Jahren stellte man fest, dass sich immer mehr von ihnen in der Schweiz niederliessen: aus der «Gastarbeit» wurde ungeplante Einwanderung. Die Gründe hierfür waren vielfältig, entscheidend war, dass auch die Wirtschaft feststellte, dass die Schweiz dauerhaft auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen war. Unter dem Druck der damals an Fahrt gewinnenden Bewegung gegen kulturelle «Überfremdung» änderte die Schweizer Regierung ihre Politik: Einerseits wurde die Zulassung ausländischer Arbeitskräfte beschränkt, andererseits wollte man die Ausländer, die bereits im Land waren, nun doch eingliedern. Die Frage, wie dies zu schaffen und wer die Verantwortung für das Gelingen der «Eingliederung» trug, war umstritten.
Eine sehr verbreitete Sicht war, dass sich die «Fremden» unterordnen, individuell anpassen, ja in gewisser Hinsicht unsichtbar werden mussten. Man sprach hier seit dem frühen 20. Jahrhundert von Assimilation. Um Schweizer zu werden, sollten die Ausländer dieser Vorstellung nach, ihre eigene Kultur über die Zeit ablegen und die Kultur des Landes übernehmen – also wie Schweizer denken, sprechen und handeln. Erst wenn man sich über Jahre assimiliert und bewährt hatte, sollte man durch Einbürgerung auch rechtlich ein Schweizer werden können. Das Einbürgerungsgesetz von 1952 stellte sicher, dass es meist viel länger als die Mindestdauer von zwölf Jahre dauerte, etwa bei einem Wechsel des Wohnorts.
Die Fremdenpolizei hatte seit Ende des Ersten Weltkrieges, die Aufgabe zu überprüfen, ob mögliche Anwärter auf Niederlassung und Einbürgerung den Anforderungen auf Assimilation genügten. Diese Logik wurde 1978 in einem der bis heute erfolgreichsten Schweizer Filme auf die Schippe genommen. Die «Schweizermacher» wurden zu einem Kassenschlager – auch, weil zu der Zeit durchaus viele Menschen in der Schweiz diese fremdenpolizeiliche Vorstellung von Eingliederung in Frage stellten. Sie vertraten eine andere Sicht, die ebenfalls mit der «Entdeckung der Einwanderung» Mitte der 1960er Jahre aufgekommen war. Viele Stimmen in der Zivilgesellschaft, in den Kirchengemeinden aber auch in der Sozialwissenschaft gingen hier davon aus, dass der Erfolg der Eingliederung davon abhing, ob eingewanderte Menschen die Chance erhielten, an der Gesellschaft strukturell teilzuhaben: durch Gleichberechtigung, Bildung und Partizipation. «Integration» – so der neue Begriff, der damals aufkam, meinte eine beidseitige Anstrengung, um Einwanderung gut zu gestalten, sowohl der Eingewanderten als auch der Aufnahmegesellschaft. Anders als die Fremdenpolizei ging man hier davon aus, dass im Zuge der strukturellen Integration eine wechselseitige kulturelle Anpassung stattfinden würde, bei der sich letztlich sowohl die Eingewanderten als auch die Aufnahmegesellschaft verändern würden. In den 1970er Jahren formierte sich eine breite soziale Bewegung, von christlichen, über liberale bis linke Akteure, die sich für eine solche, neue Integrationspolitik einsetzten. 1981 scheiterte der Versuch dieser sogenannten «Mitenand-Initiative» an der Urne, die neue Perspektive der Integration in der Verfassung zu verankern. Doch in den folgenden zwei Jahrzehnten gewann die Integrationsperspektive zunehmend an Einfluss. Um die Jahrhundertwende wurde Integration dann zum ersten Mal zu einem gesetzlichen Auftrag für staatliche Behörden. Trotz der allgemeinen integrationspolitischen Öffnung gab es keine entsprechende Anpassung des Bürgerrechts, mit Ausnahme der Einführung der Doppelbürgerschaft 1992. Im Gegenteil, nach 1983 und 1994 wurde 2004 zum dritten Mal eine erleichterte Einbürgerung der zweiten Generation an der Urne abgelehnt. Auch die erleichterte Einbürgerung der dritten Generation, die 2017 erreicht werden konnte, bedeutete keinen Paradigmenwechsel, ebenso wenig wie die Bürgerrechtsreform von 2018, in der zwar die Mindestdauer bis zur Einbürgerung auf zehn Jahre runtergesetzt wurde, jedoch bei gleichzeitiger Verschärfung der Selektion aufgrund sozialer Kriterien und dem Migrationsstatus. Während sich die Schweiz seit den 1960er Jahren zu einem globalisierten Migrationsland entwickelt hat, ist das Bürgerrecht in der Zeit der Gastarbeit steckengeblieben. Nicht zuletzt deswegen ist der Anteil an Menschen ohne Schweizer Bürgerrecht in der Wohnbevölkerung seitdem von 5 auf 25% angestiegen. Tendenz weiter steigend.
Offiziell ist heute nur noch von Integration die Rede, nicht von Assimilation. In den Gesetzen, der behördlichen Praxis sowie im öffentlichen Diskurs sind jedoch beide Vorstellungen leitend: Integration als individuelle kulturelle Anpassung einerseits und als beidseitige Öffnung durch die Ermöglichung von gesellschaftlicher Teilhabe andererseits. Auch in der polarisierten öffentlichen Debatte um das Bürgerrecht und Einbürgerung treffen beide Bedeutungen von Integration aufeinander und wirken nicht selten wie Gegensätze. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht kann man aber zeigen, dass sich diese Perspektiven nicht ausschliessen, sondern verschiedene Aspekte von Einwanderung beschreiben: Eingewanderte Menschen passen sich tatsächlich über die Zeit an, jedoch nicht an ein Klischeebild des «Schweizers», sondern an die konkreten Lebenswelten, an denen sie in der Schweiz teilhaben. Diese unterscheiden sich nach Sprachregion, Kanton, Gemeinde, Quartier, Berufsfeld, sozialer Schicht, Hobbies und Interessen. Zudem führt die Anpassung nicht dazu, dass der Bezug zur Herkunftskultur automatisch verschwindet. Identitäten sind vielschichtig. Die Forschung zeigt auch, dass Anpassungsprozesse von eingewanderten Menschen insbesondere dort gelingen, wo nicht nur die Bereitschaft, sondern auch die Möglichkeit zu Teilhabe gegeben ist: am gesellschaftlichen Leben, am Arbeitsmarkt, am Wohlstand und an sozialer Sicherheit und Mobilität.
Eine nachhaltige Reform des Bürgerrechts müsste diese verschiedenen Aspekte von Integration im Blick behalten und fördern, das heisst, es muss einerseits durchaus den Anspruch erheben, dass angehende Bürgerinnen und Bürger die freiheitlich-demokratischen Grundsätze teilen, die in der Bundesverfassung verankert sind und einen Willen mitbringen, an der Gesellschaft teilzuhaben und sich mit ihr zu identifizieren. Allerdings sollte diese Identifikation nicht auf ein klischiertes engstirniges Bild der Schweiz abzielen müssen, sondern auf die vielschichtige soziale Realität einer globalisierten Migrationsgesellschaft. Umgekehrt muss in einem nachhaltigen Bürgerrecht die Tatsache Ausdruck finden, dass eine Einbürgerung nach sinnvoller Frist nicht nur Identifikation, sondern auch strukturelle Teilhabe fördert, also nicht erst den krönenden Abschluss, sondern eine Voraussetzung für gelingende Integration darstellt. Weitaus wichtiger als die Frage, ab wann genau frühestens eingebürgert werden dürfen sollte – nach drei, fünf oder sieben Jahren –, wäre ein grundlegender Perspektivwandel. Es braucht einen neuen Blick auf die Frage, welche Rolle das Bürgerrecht für die Integration und den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Einwanderungsland Schweiz spielt.
Literatur:
Kijan Espahangizi: Der Migration-Integration-Komplex. Wissenschaft und Politik in einem Nicht-Einwanderungsland, Konstanz 2022 (2. Auflage: 2023).
Dominik Hangartner, Jens Hainmueller und Giuseppe Pietrantuono: «Catalyst or Crown: Does Naturalization Promote the Long-Term Social Integration of Immigrants?», in: American Political Science Review 111(2), 2017, S. 256–276.
Esteban Pineiro: Integration und Abwehr. Genealogie der Ausländerintegration, Zürich 2015.
Damir Skenderovic, Gianni D'Amato: Mit dem Fremden politisieren. Rechtspopulismus und Migrationspolitik in der Schweiz seit den 1960er Jahren, Zürich 2008.
KIJAN ESPAHANGIZI ist Historiker und Privatdozent an der Universität Zürich. Er forscht und lehrt zur Migrationsgeschichte der Schweiz und ist Mitgründer von INES.
